Montag 02.11.2009
An einem ganz normalen Montag sollte sich unser Leben von Grund auf verändern. Irre wie nah Freud und Leid doch beieinander liegen können.
Geburtstag meiner Schwiegermutter, 1. Herbstferientag und das 1. Monat in dem wir einen kompletten Lohn als Guthaben auf unserem Konto hatten.
Es war ca. 10 Uhr Vormittags, als ich gut gelaunt mit unseren 6 jährigen Zwillingen Jan und Lena und meinem mittleren Sohn aus erster Ehe Stefan, von der Bank und dem Einkaufen nach Hause ging. In Gedanken malte ich mir aus, wie freudig Martin reagieren würde, wenn ich ihm von unserem „Reichtum“ erzählte.
Wir hatten harte Jahre hinter uns. Als ich im 4. Monat mit den Zwillingen Schwanger war, ging die Firma in der Martin arbeitet in Insolvenz.
Alle seine Bewerbungen wurden abgelehnt, da er angeblich Überqualifiziert sei.
Es kam, wie es kommen musste, erst Arbeitslosengeld, dann Hartz4.
Damit konnten wir uns beide nicht abfinden und so entschlossen wir, wenn er schon Überqualifiziert sei, könnte er auch gleich seinen Meister machen. Mit Hartz4 und drei kleinen Kindern, trotz BAföG, eine gigantisch, finanzielle Herausforderung. Wir lebten quasi von der Hand in den Mund und unser Konto rutschte immer weiter ins Dunkelrot.
Polizeibesuch
Aber diese Zeiten waren vorbei. Jetzt standen wir wieder auf der Sonnenseite, schließlich hatten wir es geschafft und unsere Schulden abgearbeitet. Deshalb ging ich noch immer lächelnd, mit den Kids im Schlepptau um die Ecke des Mietshauses, in dem wir unsere Wohnung hatten.
Mir war zwar das Polizeiauto auf dem Parkplatz aufgefallen, hatte dem aber keine weiter Beachtung geschenkt. Das änderte sich nun, als ich wenige Meter vor mir, an der Eingangstüre einen Polizisten stehen sah. Er blickte mich an und fragte: „Sind Sie Frau Bien?“
Falls nun jemand denkt ich hätte, wie in Film und Fernseher immer gezeigt, sofort gewusst um was es geht, der irrt sich gewaltig. Mir ging alles mögliche durch den Kopf, nur nicht DAS was dann folgte.
Er bat mich darum alleine mit mir zu sprechen und man merkte das ihm die folgenden Sätze nicht leicht fielen.
„Ich wurde von der Polizeiinspektion Hohenbrunn beauftragt Ihnen mitzuteilen, das ihr Mann einen Verkehrsunfall hatte. Noch lebt er und wird im Moment im Klinikum München Schwabing operiert.“
Als hätte mich ein Vorschlaghammer mit voller Wucht erwischt. Mir wurde eisigkalt und ich erstarrte zur Salzsäule. Keine Ahnung was er noch alles sagte, ich registrierte nichts mehr. Einzig die Worte: „Noch lebt er“ wiederholten sich wie ein Mantra in meinem Kopf.
Fragt nicht wie lange es dauerte, aber plötzlich ging ein Ruck durch meinen Körper, ich musste was tun. Ich sah dem Polizisten in die Augen und sagte unheimlich ruhig und gefasst: „Ich werde jetzt nicht in Tränen ausbrechen oder zusammen klappen. Sie können ruhig gehen. Jetzt muss ich dringend Telefonieren und dann nach München.“
Intensivstation
Mein Zwillingsbruder hatte zufällig Zeit und holte mich und die Kinder ab. Diese fuhren wir erst 80 km zu meiner Mama, während ich telefonische Informationen verteilte und machten uns dann auf den Weg nach München. Ein kurzer Halt beim Polizeirevier um die Sachen von Martin zu holen und dann stand ich alleine vor dem Krankenhaus.
Mit wackeligen Beinen erfragte ich mir den Weg zur Intensivstation und nach unzähligen Gängen, Türen, Schleusen incl. Schutzkleidung, führte mich ein Pfleger zu meinem Mann.
Ich stand vor dem Bett und erkannte ihn nur an seinen Tattoos. Er lag nackt, mit einem kleinen Handtuch über dem Becken auf dem Bett, umgeben von unzähligen Maschinen und angeschlossen an eben soviel Schläuche und Kabel. Sein Körper wies keine erkennbaren Wunden auf, nur sein Kopf war geschoren und auf einer Seite mit Kompressen abgedeckt.
Dann blieb mein Blick auf seinem Gesicht haften. Das war nicht mehr mein Mann. Nur noch eine geschwollene, lilablaue Maske in der ich nichts vertrautes finden konnte.
Irgendwer schob mir einen Stuhl unter den Po, genau im Richtigen Moment da meine Beine ihren Dienst versagten. Ich saß da, hielt seine Hand und war zu keinem klaren Gedanken fähig. Ich beobachtete seinen Brustkorb, der sich begleitet durch das Geräusch der Beatmungsmaschine, hob und senkte. Verfolgte mit den Augen jeden Schlauch und jedes Kabel, um es dem jeweiligen Gerät zuzuordnen. Total unsinnig, da ich sowieso keine Ahnung hatte wozu es diente.
Jemand drückte mir ein Glas Wasser in die Hand und ich folgte mechanisch der Anweisung es zu trinken. Das Ganze hier war so surreal. Das konnte nur ein Alptraum sein und doch spürte ich seine warme, bewegungslose Hand in meiner. Nach unendlich langer Zeit, die sich wie ein kurzer Augenblick anfühlte wurde ich gebeten die Intensivstation zu verlassen.
Der erste Moment danach
Ab dem Moment als ich meinen Mann dort liegen sah, ist meine Erinnerung Lückenhaft. Ähnlich wie beim Erwachen am Morgen, man weiß das man geträumt hat. Es tauchen Sequenzen im Kopf auf, kurze Moment und Gedanken, aber man kann sie nicht zu einem ganzen Bild zusammen setzen. Ich erinnere mich das ich danach vor dem Krankenhaus stand. Wie ich da hingekommen bin und ob vorher ein Arzt mit mir gesprochen hat, liegt verborgen.
Wie spät es war kann ich nicht mehr sagen, nur das es bereits Nacht sein musste. Ich stand alleine und hilflos im Regen, es war dunkel und der Wind zerrte an meiner Kleidung, doch ich fühlte nur leere. Menschen gingen an mir vorbei und niemand interessierte sich für mich. Das hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Diese übermächtige Einsam- und Hilflosigkeit. Mitten in einer Großstadt, umgeben von Millionen Menschen und doch so ALLEIN.
Ich erinnere mich, das ich unzählige Telefonate führte und irgendwann bei meinem Bruder auf dem Sofa lag. Mehr ist von diesem Abend nicht geblieben.
Nur das Gefühl der Hilflosigkeit.